Als ich in den Stall kam um mein Pferd aus der Box zu holen, blieb ich plötzlich stehen. Ja, ich hatte richtig gehört. Jemand schluchzte leise vor sich hin. Ich schaute vorsichtig über die Tür der Box aus der das Weinen kam. Da saß Katrin, in eine Ecke gekauert, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und weinte haltlos vor sich hin. Sie hatte vor einiger Zeit ihr Pferd verloren. Waldfee war an einer Kolik gestorben. Katrin war seitdem völlig verzweifelt und machte sich noch dazu Vorwürfe nicht genug getan zu haben.
Vorsichtig öffnete ich die Tür um sie nicht zu erschrecken. „Hallo Katrin“, sagte ich leise, „kann ich irgendetwas für dich tun?“ „Nein, du kannst mir Waldfee ja nicht zurückbringen. Weißt du, sie war immer da, wenn ich sie brauchte. Wir sind zusammen durch dick und dünn gegangen. Jetzt tröstet mich niemand mehr. Nie mehr werde ich ihr Fell spüren und ihren Duft riechen. Ich kann nie mehr glücklich sein!“
„Ich möchte dir einen Vorschlag machen“, sagte ich. „Wenn es für dich passt, würde ich gerne mit dir zusammen in den Wald gehen und zwar den gleichen Weg, den du am liebsten mit Waldfee geritten bist. Ich werde dir dort etwas zeigen.“
Einige Tage später kam Katrin tatsächlich zu mir. Sie war nun doch neugierig geworden und so verabredeten wir uns.
An einem schönen, sehr warmen Sonnentag gingen wir gemeinsam los.
„Möchtest du mir euren Lieblingsweg zeigen? Und weine ruhig, denn das tut gut.“ sagte ich zu ihr und wir machten uns gemeinsam auf den Weg.
Langsam verließen wir den Hof, um vorbei an Feldern und einer Streuobstwiese Richtung Wald zu gehen. So kamen wir auch an einer großen Senke vorbei, die sich nach dem Regen immer mit Wasser füllte. „Hier waren wir immer so gerne“, sagte Katrin plötzlich. „Waldfee liebte es im Wasser aufzustampfen, dass es nur so spritzte.“ Unter ihre Tränen mischte sich ganz zaghaft ein Lächeln.
Kurz vor dem Eingang zum Wald lag ein großer Stapel Holz. Da musste Katrin nun doch lachen. „Weißt du, wie oft wir hier vorbeigeritten sind? Und immer hat Waldfee hier Gespenster gesehen. Sie hat geschnaubt und ist zur Seite gesprungen als würde sie den Stapel zum ersten Mal sehen.“
Ich sagte nichts und zwinkerte dem kleinen Waldgeist, der auf dem Holstapel saß, heimlich zu.
Wir waren mittlerweile im Wald angekommen und die wundervolle Luft tat uns beiden gut. Fast gleichzeitig atmeten wir tief ein und schlossen für einen kurzen Moment die Augen. Ich liebe diese wundervolle Stille mit der mich der Wald immer wieder umfängt.
Auch Katrin schien die Ruhe gut zu tun, denn plötzlich begann sie zu erzählen. Wie Waldfee zu ihr kam, von den kleinen und großen Abenteuern die sie gemeinsam erlebt hatten. Langsam versiegten die Tränen und immer öfter huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
Dann kamen wir zu einer Stelle im Wald, die ich ganz besonders liebte. Durch das Spiel von Licht und Schatten herrschte hier eine ganz besondere Atmosphäre. Die aufsteigende Feuchtigkeit sorgte für eine angenehme Kühle. Die einzelnen Sonnenstrahlen die durch die Bäume fielen tauchten die kleine Lichtung in ein mystisches Licht.
„Möchtest du hier eine kurze Pause mit mir machen?“ fragte ich. „Klar, gerne“, antwortete Katrin, „diese Stelle hat Waldfee und mir immer besonders gut gefallen. Es sieht alles irgendwie so verwunschen aus hier.“
Ich ließ meinen Blick über diesen Platz gleiten, spürte seine besondere Energie, die vor allem von den umgestürzten Bäumen und wild durcheinander liegenden Ästen aus ging.
„Huch,“ rief Katrin laut und unterbrach meine Gedanken. Sie hatte sich auf einen Baumstamm gesetzt. „Jetzt habe ich einen ganz nassen Po“, lachte sie. „Ja, du hast gerade die Klimaanlage des Waldes entdeckt.“ sagte ich. „Schau dich Mal um, was siehst du hier?“
Sie sah mich fragend an „Hm, lauter tote Bäume?“
„Dann schau doch mal bitte etwas genauer hin“, bat ich sie. „Sind die Bäume wirklich tot? Du hast dich gerade auf eine Buche gesetzt. Sie ist die Hüterin des Waldes, auch noch nach ihrem vermeintlichen Tod. Sie speichert Wasser, um für Tiere und Pflanzen eine angenehme Waldatmosphäre zu schaffen. Aber sie tut noch viel mehr als das. Diese Buche hat ihr ganzes Leben lang Nährstoffe gespeichert, die sie nun, nach ihrem Tod, ihrer Umwelt schenkt. Viele Pflanzen, Pilze und Tiere könnten ohne dieses Totholz nicht leben. Indem sie diese Stoffe freisetzt, ernährt sie sogar ihren Nachwuchs. Siehst du all die kleinen Buchen, die hier stehen?“
Katrin schaute mich nachdenklich an. „Das erzählst du mir doch alles nicht ohne Grund?“
Ich grinste. „War der Tod dieses Baumes sinnlos? Ist die Buche vielleicht irgendwie gar nicht wirklich tot?“ frage ich dich. „Es ist der Zyklus des Werdens und Vergehens, der uns alle miteinander verbindet.
Vielleicht möchtest du dir mal überlegen, was Waldfee dir hinterlassen hat? Denn auch sie ist immer noch da, wenn auch nicht mehr sichtbar. Aber sie kann deine Seele immer noch nähren. Nimm dir Zeit und spür in dich hinein. Dann wirst du entdecken, was ich meine“.
In den nächsten Tagen sah ich Katrin immer wieder im Wald verschwinden.
Und eines Tages kam sie zu mir.
Sie strahlte regelrecht, ja, sie wirkte tatsächlich, als wäre sie gewachsen.
„Ich habe verstanden“, sagte sie. „Waldfee hat zu mir gesprochen“
„Liebe Katrin, ich bin dein
und werde immer bei dir sein.
Auch, wenn du mich nicht kannst sehen,
werde ich immer mit dir gehen.
Erlaube dir wieder zu spüren,
dann kann ich dich ganz sanft führen
auf deinem weiteren Lebensweg.
Denn dieser hat einen bestimmten Zweck.
Meine Liebe und deine Liebe sind untrennbar verbunden.
Wir haben gemeinsam so viel überwunden.
Deshalb kannst du dich nun kümmern um andere Wesen,
sie begleiten und heilen, dass sie wieder genesen.
So kehrst du auf deinen Seelenweg zurück
und wir finden gemeinsam unser Glück.“
„Ach, und übrigens“, schloss Katrin. „Auf dem Holzstapel sitzt ein kleiner Waldgeist. Hast du den schon gesehen?“
© Kirsten Susanne Dier
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Latz Stephanie (Montag, 16 September 2024 06:36)
So eine schöne Geschichte.
Dankeschön fürs Teilhaben lassen �
Hyazintha Pieter (Montag, 16 September 2024 23:29)
���
wunderschön!