Maria lebte ihr Leben. Tagein, tagaus.
Morgens verließ sie das Haus um zur Arbeit zu gehen. Ihre Kollegen schätzten sie als zuverlässig, nie war ihr etwas zu viel, nie gab es ein Nein.
Aber ihre Müdigkeit und Leere, wenn sie abends nach Hause kam, sahen sie nicht. Maria konnte es nämlich immer schon sehr gut verbergen, wenn es ihr nicht gut ging. Vor den Anderen, aber auch vor sich selbst. Wenn dieses wohlbekannte Gefühl der Traurigkeit in ihr aufkam, verdrängte sie es sofort und freute sich stattdessen lieber auf das Wochenende.
Da war sie nämlich draußen in der Natur und im Wald. Dort fand sie Trost und Zuspruch, ja, dort konnte sie uneingeschränkt so sein, wie sie war.
Heute war es wieder so weit. Ganz früh am Morgen packte sie ihren kleinen Rucksack und machte sich voller Vorfreude auf den Weg. Außer einer Trinkflasche hatte sie natürlich auch ihr geliebtes Märchenbuch dabei. Das war schon ganz zerfleddert vom vielen Lesen. Sie freute sich, dass sie bereits zum Sonnenaufgang auf ihrer Lieblingsbank sitzen würde um die wundervolle Natur zu genießen.
So machte Maria sich auf den Weg. Am Eingang zum Wald blieb sie stehen um die Naturwesen zu begrüßen. Sanft streichelte der Wind ihre Wangen und sie wusste, dass sich die Luftgeister so bemerkbar machten, um sie willkommen zu heißen. Maria atmete tief durch und lächelte.
Auf ihrer Bank angekommen spürte sie den morgendlichen Herbstnebel und das Licht der aufgehenden Sonne verzauberte die Natur. Jetzt im Herbst roch es besonders gut.
Sie war in einer anderen Welt, konnte eintauchen in die Düfte und dem Rauschen der Blätter lauschen. Hier war sie zufrieden und es ging ihr gut.
Wie immer nahm sie ihr Märchenbuch zur Hand um zu Lesen.
Doch heute war irgendetwas anders als sonst. Maria hatte keine Ruhe und schaute sich um. Langsam klappte sie das Buch wieder zu und stand auf. Einem Impuls folgend ging sie tiefer in den Wald. Diesen Weg war sie noch nie gegangen und ihr Herz klopfte ein wenig aufgeregt. Was hatte das zu bedeuten?
Plötzlich musste sie an ihre Kindheit denken. Auch da war sie immer sehr viel im Wald gewesen, denn dort fand sie Zuflucht. Sie schluckte, als sie bei dem Gedanken ein bekanntes Unwohlsein spürte. Schnell unterdrückte sie die aufkommenden Gefühle. Fast wurde sie ein wenig ärgerlich. Sie war ja schließlich hier um sich gut zu fühlen, nicht, um sich plötzlich mit Dingen zu beschäftigen, die längst vergangen waren. Nicht ohne Grund hielt sie dies so sorgsam verborgen. „Alles ist gut“, sagte sie zu sich und ging weiter.
Plötzlich stand sie an einer wunderschönen Schlucht. An den Hängen lag viel Totholz und ganz unten floss ein kleiner Bach. Die meisten der Stämme waren bereits mit Zunderschwämmen bewachsen. „Wie wunderschön“, dachte Maria. „Da werde ich mir nachher einen mitnehmen zum Räuchern.“ Auf der anderen Seite entdeckte sie ein kleines sonnenbeschienenes Plateau und erkannte einen Kreis, der aus bemoosten Steinen bestand. Ja, tatsächlich, ein richtiger kleiner Steinkreis. Er wurde von der Sonne beschienen und das Lichtspiel war berührend schön.
„Da muss ich hin“, dachte sie und kletterte den Hang hinunter. Unten angekommen verweilte sie einen Moment und betrachtete liebevoll die vielen mit Moos bewachsenen Steine und Felsen die an den Hängen und in dem Bachlauf lagen.
Auf dem Plateau angekommen musste sie tief durchatmen. Welch ein besonderer Ort. Irgendetwas berührte sie ganz tief in ihrem Inneren.
Und trotzdem zog sie etwas weiter, ein kleines Stück nur, hin zu einer Buche, die etwas am Rand stand.
Als sie sich den prächtigen Baum genauer anschaute erschrak sie heftig. Der Baum hatte eine riesige Wunde an seinem Stamm. Dort war wohl vor langer Zeit ein sehr großer Ast abgebrochen. Die Wunde war verheilt, aber immer noch deutlich sichtbar.
„Du armer Baum“, sprach sie, „darf ich mich eine Weile zu dir setzen?“ Sie fühlte sich auf besondere Weise mit der Buche verbunden, ohne zu wissen warum.
„Aber natürlich“, antwortete der Baum, „setz dich zu mir und ruhe dich aus. Aber wieso denkst du, ich sei ein armer Baum?“
„Na, wegen der großen Wunde. Du musst doch Schmerzen leiden und kaum mehr etwas anderes empfinden“, sagte Maria.
Da lachte Mutter Buche leise und sprach:
„Liebe Maria, ja, ich habe vor langer Zeit eine schlimme Verletzung erlitten. So ist das Leben. Wir müssen immer wieder mit Verletzungen umgehen. Aber schau dich um. Bin ich nicht trotzdem ein stattlicher Baum geworden? Meine Krone ragt in den Himmel und meine Wurzeln sind tief verbunden mit Mutter Erde.“
Maria lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm. Sie hatte sich zwischen die Wurzeln gesetzt und schaute nach oben. „Ja“, sagte sie, „das bist du. Dein Stamm ist kräftig und du bist höher gewachsen, als die meisten Bäume hier.“
„Nun schau auf den Boden. Siehst du die vielen kleinen Buchen, meine Kinder? Ich ernähre sie und sie dürfen in meinem Schatten wohlbehütet aufwachsen“, fuhr die Buche fort. „Ja tatsächlich“, sagte Maria. „Das war mir eben gar nicht aufgefallen.“
„Und nun schau dir die Wunde an“, forderte die Buche Maria auf. „Nein, das kann ich nicht“, antwortete diese. Alles in ihr sträubte sich dagegen und Maria dachte, dass sie das viel zu sehr an ihre eigene Wunde erinnerte, die in ihrem Inneren brannte.
„Lass dir Zeit“, sagte da die weise Buche liebevoll. „Es wird nichts Schlimmes geschehen.“ Maria stellte sich hin und schaute zögernd auf diese fürchterliche Verletzung. Sie glaubte es kaum ertragen zu können. Und doch merkte sie plötzlich, dass sich statt der erwarteten Übelkeit so etwas wie eine aufgeregte Neugier in ihr breit machte. Sie sah die Spinnenweben, die kleinen Insekten, ja sogar einen Käfer, die in den Löchern saßen. Das Holz war teilweise schon richtig zerbröselt und fiel zu Boden. Auch kleine Pilze konnte Maria entdecken.
„Aber tut das nicht weh?“
Als die Buche wieder zu sprechen begann, war es als würde sie Maria mit ihrem hellen Schein umarmen.
„Liebe Maria, wenn wir annehmen, was uns wiederfährt, dann kann Heilung geschehen.
Das Leben ist ein Rhythmus von Werden und Vergehen. Ich wurde verletzt und bin trotzdem gewachsen. Und durch meine Wunde kann ich andere Wesen ernähren.
So könnt auch ihr Menschen andere Menschen heilen, in dem ihr sie an euren Verletzungen und dem was ihr daraus gelernt habt, teilhaben lässt. So wirst du selbst heil und kannst andere beim Heilwerden begleiten.“
Noch lange saß Maria bei dem Baum bevor sie sich tief bewegt auf den Heimweg machte. So ganz wusste sie noch nicht, was genau sie ändern würde. Aber sie spürte voller Freude, dass bereits ein kleiner Samen in ihrem Inneren zu keimen begann.
© Kirsten Susanne Dier
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Latz Stephanie (Montag, 16 September 2024 06:43)
Sooooo schön �